17.04.2017

Patient glücklich entlassen // Gestatten: Narziss.
[Part V]



...und wie sie lasen, lasen sie nichts. Denn wider Erwarten passiert  in so einem Leben doch mehr, als man wahrhaben möchte, selbst wenn man alles Abwehrbare abwehrt. Aber mehr dazu vielleicht an späterer Stelle – jetzt möchte ich meiner Geschichte hier erstmal zur lange angekündigten, fröhlichen Wendung verhelfen.

Andre erzählt von 9 Wochen stationärer Psychotherapie und lädt sich zur besseren Strukturierung muntere Musikantinnen ein, heute wieder Balbina und als Stargast zur musikalischen Untermauerung meiner Kernerkenntnis Emeli Sandé – Teil 5.

An anderer Stelle finden sie: Teil 1 | Teil 2 | Teil 3 | Teil 4.

Balbina singt: "Der Dadaist"

da da sind
dinge die ich
einfach finde-
die ich einfach gut finde
die mich faszinieren…
obwohl sie ständig ignoriert - werden
warum nicht
da da ist
was

Damit ging es los. Denn so einfach und banal, wie das für kopfgesunde Menschen klingen mag, ist das Benennen von Dingen, die man mag und die man gerne macht nicht, wenn man seine komplette Existenz für einen Fehler hält. Und sich selbst dafür gut zu finden, dass man bestimmte Dinge mag, unabhängig davon, was andere darüber denken und unabhängig davon, ob man seine Faszination rational erklären kann, ist dann schon für Fortgeschrittene.



Balbina singt: "Der Scheitel"

nirgends, bin ich so frei,
wie unter meinem scheitel.
und da bleib ich ein weilchen,
und da bleib ich ein weilchen!
ich stehe drüber, über dem über.
ich fühle nichts, das mich betrübt.
alles was mir grenzen setzt ist nicht echt,
ich grenz mich ab von dem schlechten.
mit jedem atmer werden fakten egaler.
das da um mich rum ist nicht real!
in meinem kopf lebt die realität,
ich kann es hinter den augen doch sehen!

Was wunderbar an meinen vorhergehenden Absatz anknüpft. Denn zunächst zu akzeptieren, dass das, was  in meinem Kopf stattfindet, meine Realität ist, die genau so, wie sie stattfindet, gut ist, und die vor niemandem gerechtfertigt werden muss, das war anstrengend, und es brauchte auch mehrere Anläufe, bis ich in der ein oder anderen Situation die Rechtfertigung meiner Gefühle auch mal weglassen konnte. Und wenn man dann erstmal an einem Punkt ist, an dem man seine eigene Realität und damit sein Selbst erkennen und lieb haben kann, macht es plötzlich auch Spaß, eine Weile unter dem eigenen Scheitel zu verweilen. Und dann macht das Setzen von Grenzen auch Sinn, denn wer sein eigenes Territorium auf einmal liebt, der möchte auch nicht, dass jeder Honk darauf rum trampelt.



Und genau so ging es mir, als mir in der siebten Therapiewoche an meinem vierten Wochenende zu Hause aus dem Nichts heraus die große Erkenntnis kam. Oder wenigstens das, was sich für mich unglaublich groß und befreiend angefühlt hat. Es gab Vorboten, denn ich hatte schon einige Tage zuvor plötzlich wieder angefangen, unglaublich viel aufzuschreiben. Und auch zu Hause kamen die Gedanken und Gefühle nur so gesprudelt und ich kam gar nicht hinterher mit aufschreiben – ich nehme an, dass das die große Erkenntnis war, die sich langsam ihren Weg bahnte. Und dann war Sonntag, und sonntags mussten wir immer Wochenbericht für unsere Therapeuten schreiben, in dem ich mich in Woche 7 mit der Frage "Wo ist der Kern???" auseinander setzen wollte. Meine Therapeutin hatte mich schon mehrfach darauf hingewiesen, dass ich immer sehr viel schreibe, und dass das sicher auch alles sehr relevant für mich ist, aber dass noch irgendein Element fehlt, dass alles verbindet. Und ich wusste nicht, welches das sein soll. Und schrieb dann auch genau diese Frage in Großbuchstaben in die Mitte meines Wochenberichts. Aber dann kam nach diversen Überlegungen über kaputten Selbstwert, über kaputte Gesellschaften und über ungesunde Kompensationsmuster auch das Thema Narzissmus immer wieder in meinen Kopf geschossen. Ich hatte genau zwei Erzfeinde in meiner stationären Therapie, und beide waren Narzissten vor dem Herrn. Oder Spiegelwichser. Oder wie auch immer sie einen Menschen bezeichnen möchten, der von sich selbst dermaßen überzeugt ist, dass er sich an sonnigen Tagen als der Messias fühlt, und an regnerischen Tagen die Schuld am Regen allen anderen gibt, nur nicht sich selbst. Und auch in Begegnungen mit anderen Patienten oder mit Personal haben mich solche Charakterzüge immer am meisten aufgeregt, und das in einer Art und Weise, die ich nicht erklären konnte. Spannenderweise kann man aber an den Dingen, die einen am meisten aufregen, oft auch am meisten über sich selbst lernen, denn die wenigsten Dinge regen einen ohne Grund auf, und auch nicht nur, weil sie halt einfach scheiße sind. Und dann, ganz plötzlich, fiel es mir wie Schuppen aus den Haaren: Der Grund, warum ich Hardcore-Narzissten jedes mal ohne Verhandlung unangespitzt in den Boden rammen könnte, wenn sie wieder raus hängen lassen, wie geil und allwissend sie doch sind, ist der, dass ich selbst ein geborener Narzisst bin. Und damit in den Spiegel schaue, wenn ich einem anderen Narzissten begegne, und dieses Spiegelbild einfach nicht ertrage (schöne Analogie auch, denn an den Tagen, an denen es mir am schlechtesten ging, konnte ich nie in den Spiegel schauen). Denn ich habe mir in den letzten 20 Jahren nicht erlaubt, mich geil zu finden. Ich weiß noch, dass ich in der Schule ein kleiner Klugscheißer war, der schon immer gern Rechtschreibung, Grammatik und Ausdruck korrigiert hat, was aber selten gut ankam, und auch an anderen Stellen wurde mir kommuniziert, dass ich mal schön die Bälle flach zu halten habe, und dann habe ich mir verboten, mich, meine Gedanken und meine Gefühle super zu finden. Woraus über die Jahre ein permanentes Zweifeln und Infragestellen sämtlicher Gedanken und Gefühle und damit die totale Selbstentwertung wurde. Und erst 20 Jahre später erkenne ich das und darf mich auf einmal wieder geil finden. Ich weiß nicht, ob meine Schilderung hier das auch nur halbwegs vermittelt, aber ich hatte den Rest meines Sonntags das Gefühl, die Erleuchtung gefunden zu haben.

Und auch, wenn da sicher viel Euphorie dabei war, denke ich trotzdem nach wie vor, dass das für mich die große Kern-Erkenntnis war. Neben einigen weiteren Kern-Erkenntnissen, die auch wichtig für meinen weiteren Lebensweg sind. Aber die Erkenntnis, dass ich mich selbst eigentlich ziemlich geil finde hat sich angefühlt, wie das eine, fehlende Element, das alle anderen Elemente zusammen führt und verbindet. Alles, worüber ich danach nachgedacht habe, hat vor diesem Hintergrund auf einmal Sinn gemacht. Gefühle, die ich vor dieser Erkenntnis noch hatte, waren nach der Erkenntnis auf einmal verschwunden oder haben sich gänzlich anders angefühlt. Ich habe meinen Herzschlag gespürt… es war… traumhaft schön.

Als sich die Euphorie dann wieder ein klein wenig gelegt hatte, habe ich auch noch lange darüber nachgedacht, wo diese Erkenntnis herkam. Welchen Gedanken ich richtig gedacht habe, welche Fragen ich mir richtig gestellt habe, welche Umgebungsfaktoren eventuell Einfluss darauf hatten, was ich zum Frühstück hatte. Aber so, wie auch schon 2009 und 2011, als es mir jeweils für einige Wochen außergewöhnlich gut ging und ich danach ewig gerätselt habe, was ich damals richtig gemacht habe, wird es auch diesmal gewesen sein: Es kam einfach aus mir heraus. Und zwar in dem Moment, in dem ich mich nicht mehr darüber geärgert habe, dass es nicht kam. In dem ich mich nicht mehr gezwungen gefühlt habe, etwas erkennen zu müssen. In dem ich mir erlaubt habe, einfach zu fühlen. In dem ich frei war.
Und es kann auch gut sein, dass "Narzissmus" jetzt nicht das richtige Wort ist. Denn genau wie ich 2009 und 2011 das Gefühl hatte, manisch zu sein, weil ich glücklich war, und dieses Gefühl für mich so ungewohnt war, dass ich dachte, dass das eine Manie sein muss, obwohl es einfach nur gute Laune war, kann es auch gut sein, dass ich nach vielen Jahren der Selbstzerfleischung plötzlich wieder Selbstbewusstsein empfinde, und das fühlt sich für mich dermaßen unnormal an, dass ich direkt der Meinung bin, das ist Narzissmus. Und tatsächlich fehlen zum "echten" Narzissmus noch einige Merkmale, denn ich freue mich zwar, wenn ich andere Menschen von meiner Meinung überzeugen kann, kann es aber auch akzeptieren, wenn sie lieber eine andere behalten wollen. Ich bin auch in der Lage, mir andere Meinungen anzuhören und mich gegebenenfalls auch von meiner Meinung abbringen zu lassen. Ich gestehe anderen Expertise zu in Feldern, in denen ich einfach keine Ahnung habe. Und ich bin jederzeit in der Lage, auch bei mir die (Mit-)Schuld zu suchen und sie dort, wo sie gegeben ist, offen einzugestehen. Aber nach Gesprächen mit diversen Therapeuten war der Konsens so ungefähr das, was mir die große Lichtgestalt von Haus 18, Frau SWS, bereits so in der Psychotherapeutischen Visite gesagt hatte: "Es gibt nicht den einen Narzissten, Herr Weise. Sie sind halt ein diplomatischer Narzisst." Und genau so wollte ich das hören: Lasst mir doch einfach mein Wort, wenn ich das gerade für mich beanspruchen möchte. Und traut mir zu, dass ich auch noch selbst drauf komme, wenn es das doch nicht ist. Ich habe das jetzt auch nirgendwo als Diagnose stehen, und es geht auch gar nicht darum, da jetzt eine narzisstische Persönlichkeitsstörung draus zu zaubern, aber aus der Position, dass ich mich selbst wieder geil finden darf, möchte ich gern versuchen, den Begriff des Narzissmus etwas positiver zu belegen. Gestatten, Narziss. Aber nicht Narziss, der Spiegelwichser, sondern sein lange verschollen geglaubter, lieber und rücksichtsvoller Zwillingsbruder. (Der den selben Namen trägt, weil die Eltern der beiden wenig kreativ waren. Schreiben sie erstmal selbst 'ne gute Headline.)

Und damit nach dieser scheinbar niemals enden wollenden Textpassage erstmal alle wieder kurz durchatmen können, begrüße ich jetzt unseren Stargast, die mir schon am Sonntag meiner Erkenntnis und seitdem immer mal wieder die Hymne meines neu entdeckten Selbstbewusstsein schmetterte, die eins zu eins zu meinen Empfindungen an diesem Sonntag passt (weswegen ich mich auch freuen würden, wenn sie dem Text lauschen oder ihn mitlesen würden).

Emeli Sandé singt: "Read all about it"



You've got the words to change a nation
But you're biting your tongue
You've spent a life time stuck in silence
Afraid you'll say something wrong
If no one ever hears it how we gonna learn your song?
So come on, come on.
Come on, come on.
You've got a heart as loud as lions
So why let your voice be tamed?
Maybe we're a little different
There's no need to be ashamed
You've got the light to fight the shadows
So stop hiding it away
Come on, come on

I wanna sing, I wanna shout
I wanna scream 'til the words dry out
So put it in all of the papers,
I'm not afraid
They can read all about it
Read all about it, oh.

At night we're waking up the neighbors
While we sing away the blues
Making sure that we're remembered, yeah
'Cause we all matter too
If the truth has been forbidden
Then we're breaking all the rules
So come on, come on
Come on, come on.
Let's get the TV and the radio
To play our tune again
It's 'bout time we got some airplay of our version of events
There's no need to be afraid
I will sing with you my friend
Come on, come on.

I wanna sing, I wanna shout
I wanna scream 'til the words dry out
So put it in all of the papers,
I'm not afraid
They can read all about it
Read all about it, oh.

Yeah, we're all wonderful, wonderful people
So when did we all get so fearful?
Now we're finally finding our voices
So take a chance, come help me sing this
Yeah, we're all wonderful, wonderful people
So when did we all get so fearful?
And now we're finally finding our voices
Just take a chance, come help me sing this

I wanna sing, I wanna shout
I wanna scream 'til the words dry out
So put it in all of the papers,
I'm not afraid
They can read all about it
Read all about it, oh.

...und seit ich es in mich selbst hinein und von da aus in alle Welt hinaus rufe (oder, wie meine Mutter es im Bezug auf mein Outing formulierte, seit ich mir "ein Schild umhänge"), flutscht das.

Balbina singt: "Der gute Tag"



ich wache auf auf dem bauch,
und der ist schon mal gut drauf!
auf der matratze,
ich tanze
mit den fingern chachacha.
der flur trägt mich raus aus dem haus
und ich tret erstmal nicht auf,
denn meine sohlen schweben
einen millimeter über der allee.
es läuft wie am schnürchen.
nichts geht schief.
ich renn durch offene türen.
denn denn denn denn denn denn.
der tag hat einen guten tag.
„guten tag guten tag tag!“
und ich mach das nach!
denn ich hab  keine wahl!
„guten tag guten tag!“
und ich mach das nach:
„guten tag!“
und der bus wartet auf mich bis ich lust hab,
nicht mehr zu trödeln,
denn ich höre den vögeln zu beim klönen.
die grauen zellen schließen ihre türen auf
und geben allen zweifeln ausgang.
sie brauchen auch mal frei,
weil sie so schlecht drauf waren.
[...]
und die mundwinkel sind im rechten winkel,
sind im rechten Winkel und winken
dem tristen zum abschied!
und tschüss!
dem tristen zum abschied!
und tschüss!
und der augenblick hat gute aussicht,
hat gute aussicht auch ohne brille!
hat gute aussichten!
und ich:
hab gute aussichten-
für mich!

Kennen sie das, wenn plötzlich alle Ampeln, an die man heran fährt, grün werden? Wenn man auf eine Menschenmenge zusteuert, von der man keinen Plan hat, wie man sie jemals durchdringen soll, und dann tut sich wie von allein eine Gasse von Lücken auf, durch die man ungebremst hindurch schnipst? Wenn man im Supermarkt das wichtigste vergisst, um zu Hause festzustellen, dass man noch genug davon da hat? Ich kenne das, vor allem vom Sommer 2009. Und damals hat das viele viele Glück mich in den Nervenzusammenbruch begleitet. Weswegen ich vor zu viel Glück auch schon wieder Angst bekomme. Aber selbst da hatte ich glückliches Unglück, denn direkt am Tag meiner stationären Entlassung bin ich direkt von meinem Fahrrad über eine Motorhaube abgestiegen und musste einer äußerst aufgebrachten Dame die Daten meiner Haftpflichtversicherung ansagen, nachdem sie sich (ich sie?) beruhigt hatte. Und als mir dann in der darauf folgenden Woche kein Auto vors Fahrrad fuhr, schob mir meine Therapeutin ein sinnbildliches Auto vors sinnbildliche Fahrrad, indem sie mich darüber informierte, dass meine Mutter schon zweimal im Haus 18 angerufen hat, um mal irgendeinen Verantwortlichen zu sprechen. Aber so, wie es in allen Bereichen nicht darum geht, nur das eine oder nur das andere zu haben/ machen/ sein, geht auch Glück nicht ohne Unglück und auch Freude nicht ohne Frust, und die Kunst besteht vielmehr darin, so in seiner Mitte zu ruhen, dass einen die Granateneinschläge links und rechts der Allee nicht aus der Bahn werfen. Und ich glaube, da bin ich gerade ziemlich nah dran.

Und auch, wenn ich noch so viel mehr zu erzählen hätte, ist ja an dieser Stelle auch nicht Schluss, und meine Themen laufen mir nicht davon. Ganz im Gegenteil – sie verfolgen mich. Und ich hoffe, das in Zukunft auch wieder öfter mit ihnen teilen zu können. Oder mit euch? Ja, ich glaube mit euch. Denn wer sich diese Geschichte bis zu Ende durchgelesen hat, der hat sich mein du verdient.

Und als ob sie meinen Freudenschrei in die Welt bereits vernommen (bzw. mein Schild gelesen) hätten, haben Balbina und MIA. gleich noch einen Liedbeitrag für meine Fahrt in die Sonne beigesteuert: "Alles Neu 2017".



Gesundes neues Leben!

*plöpp*

2 Kommentare:

Spontiv hat gesagt…

Na denn. *plöpp*

Anonym hat gesagt…

Du bist geil, du warst es im ersten Moment unserer Begegnung und in jeder Minute die wir verbracht haben !-Du wirst es immer für mich sein, mein Kumpel, bester Freund , Heulen und Lachen in allen Situationen. You are great ! Forever ! Für mich immer ! Deine Franzi#Fritzi