31.12.2015

2015, oder: Gott sei Dank gibt es Urlaub.


Am liebsten würde ich einfach den letzten Jahresabschlussbericht kopieren und einfügen. Die Dysthymie, die Antriebslosigkeit, das pathologische Prokrastinieren – alles noch da. Oder wieder. Und wo ich letztes Jahr noch bejammert habe, dass meine Energie nur für 14 Blogposts gereicht hat, sind es dieses Jahr spektakuläre 10 geworden. Oy weh.


Begonnen hatte das Jahr eigentlich ganz schön, denn in Neuseeland hatten wir eine tolle Zeit, und in den Wanderhütten auf dem Kepler Track und im Tongariro Nationalpark durfte ich wieder einmal feststellen, wie sehr ich aufblühe, wenn ich auf Komfort verzichte und mich stattdessen in einfachen und beschränkten Verhältnissen einrichten darf. Und als ich wieder nach Hause kam, holte mich der letztes Jahr erwähnte Junge sogar vom Bahnhof ab, statt schon lange einen schöneren, jüngeren und fröhlicheren Gespielen gefunden zu haben, wie ursprünglich befürchtet. Aber als ich dann von meinem Urlaub erzählte, blieb die Mitfreude über meine Begeisterung leider aus - stattdessen bekam ich erklärt, warum Camping und kaltes Wasser scheiße sind, und dass Kleingärten eigentlich viel geiler sind, und... naja. Ich muss das hier vielleicht nicht auswerten. Die Pointe war jedenfalls, dass er im April im einschlägigen Kontaktportal ohne mein Wissen wieder nach "Date/ Beziehung" suchte, wodurch ich dann wusste, dass ich offensichtlich nicht mehr aktuell bin und unser Lissabon-Urlaub ins Wasser fällt. Und an dieser Stelle war es das dann auch mit meinen Lovestories in 2015.

4 Dates hatte ich über's Jahr verteilt, die für mein Empfinden auch sehr gut liefen und bei denen ich viel Spaß hatte - 3 Herren hatten bereits nach dem ersten Date keine Lust mehr auf ein zweites, einer ließ sich zumindest noch auf ein zweites Date ein - ob aus Höflichkeit oder aus Unsicherheit, wie man Desinteresse am besten kommuniziert - um mir dann nach dem zweiten Date mitzuteilen, dass er denkt, dass wir "bestimmt eine ganz tolle Freundschaft aufbauen könnten". Diejenigen, die ich an schwachen Tagen auf der Suche nach Bestätigung nur zur unverbindlichen Kissenschlacht nach Hause einlade, melden sich dagegen immer wieder, und wollen zweite, dritte und vierte Dates. An der Front scheine ich also irgendetwas richtig zu machen. Ständig wechselnde Sexualpartner, deren Namen man zum Teil erst hinterher erfährt, sind für mich aber auch im neuen Lebensjahrzehnt nach wie vor nicht das, was ich mir unter einem erfüllten Liebesleben vorstelle.

[Berlin mit Paula und Elli]
[Schaubudensommer 2015]
[T19 Essen mit Mutti]
[Balbina in der Scheune Dresden]
[Waldseilpark Bühlau mit den lieben Kolleginnen]

Glücklicherweise gab es aber auch in diesem Jahr wieder viele liebe Menschen in meinem Leben, die ab und an gewillt waren, Zeit mit mir zu verbringen, so dass ich trotzdem auf einige schöne Erlebnisse zurück blicken kann. Und genau auf solche Erlebnisse möchte ich mich im kommenden Jahr noch stärker konzentrieren. Denn die Menschen, die gern zu deinem Geburtstag gekommen, sind nicht verflossene (und im Zweifelsfall nichtmal aktuelle) Liebschaften, sondern loyale Freunde, die den Kern deiner Persönlichkeit genau deswegen schätzen. Und sollte ich mit dem Pflegen meiner Freundschaften noch nicht ausgelastet sein, gehe ich ja immernoch 70% arbeiten und 60% studieren – zumindest an Beschäftigung sollte es also auch in den kommenden zwölf Monaten nicht mangeln.

Tut mir leid, dass das jetzt alles ist, was ich als Resümee aus dem Jahr 2015 zu bieten habe, aber wenn man sich die letzten drei Jahre vorgenommen hat, sein Leben in halbwegs geordnete Bahnen gebracht zu haben, bis man 30 ist, in den ersten zwei Wochen des neuen Lebensjahrzehnts aber so ziemlich alles um die Ohren gehauen bekommt, was in den letzten 10 Jahren schief lief, dann ist der Desillusionierungs-Effekt dementsprechend, und Resignation scheint wieder attraktiver denn je. Und als ob das Jahr nicht so schon ernüchtern genug gewesen wäre, stehe ich heute vor dem T19-Geschäft, um meine letzte T19 im alten Jahr zu kaufen – hat die Bude zu!? Mal verliert man, mal gewinnen die anderen.


Nichtsdestotrotz gilt für 2016 das Gleiche, wie für alle vergangenen Jahre: The Show Must Go On. Und so werde ich mir in den letzten Stunden dieses Jahres noch ein bisschen Mühe geben, mich zurück zu erinnern an die Dinge, die vielleicht doch ganz gut gelaufen sind und die mir Freude bereitet haben (bebildertes Beispiel: Marokko - Im Blog hier, hier und hier), um dann einen gemütlichen Silvesterabend zu verbringen, mit lieben Menschen, die mir am Herzen liegen, und Nudelsalat. Und dann lautet der eine gute Vorsatz für 2016: Weitermachen.


Oder fallen lassen, wie zuletzt hier in Queenstown. Und sollten Sie zwischendurch Zeit haben: Stehen Sie auf und gesellen Sie sich auf die richtige Seite der Geschichte.


Früher war alles besser, also wird morgen alles schlimmer, also ist heute noch alles am besten!

Rutscht gut rein.
*plöpp*

05.11.2015

Das kleine Reisetagebuch: Verliebt in einen Berber.


Ja, es ist ein Kreuz mit den Männern. Da reist man extra einen Kontinent weiter, um Abstand zu gewinnen zu all den Irrungen und Wirrungen, die daheim den Geist vernebeln und einen gar nicht dazu kommen lassen, darüber nachzudenken, was wirklich wichtig ist im Leben, und dann steht er da - etwas kleiner als ich, tief braune Augen, und auch noch eine kleine Narbe auf der Wange, und es war um mich geschehen.


Aber von vorn: Zuletzt war ich ja eingekehrt in einer noblen Herberge im Hohen Atlasgebirge. Doch bereits bis da hin war es ein steiniger Weg, denn nachdem ich mich schweren Herzens von meiner Wüsten-Gruppe verabschieden musste, standen wir da, Abdullah, der Trekking-Koch und ich, am Rande einer Straße, an der ab und zu ein Taxi vorbei kommen sollte. Gerüchteweise. Eine dreiviertel Stunde lang war das allerdings nicht der Fall, so dass ich Gelegenheit hatte, das Treiben auf dem Platz des Dorfes zu beobachten - ein sehr entschleunigendes Erlebnis, das mich auch wieder zweifeln ließ, warum sich eigentlich bei uns keine Kinder mehr auf der Straße treffen, wo doch jeder jammert, wie schade es ist, dass sich keine Kinder mehr auf der Straße treffen. Aber dann kam doch das Taxi, und nachdem mir bereits zum ersten Mal ein bisschen Angst und Bange war, weil mein Rucksack nur auf's Dach geschnallt wurde, war ich endgültig ehrfürchtig, als wir irgendwann zu sechst in unserem Taxi saßen - hinten Abdullah, ich und ein fröhlicher Marokkaner, auf dem Beifahrersitz 2 fröhliche Marokkaner, und am Steuer der singende Fahrer. Zwar stand die Abendsonne herrlich tief und unser Weg führte vorbei an Dörfern, die aussahen, als wären sie aus dem Berg gehauen worden, aber ich wagte es nicht, auch nur ein einziges Foto zu machen. Nur, um es nach meiner Ankunft in der Edelabsteige wieder nicht zu wagen, Fotos zu machen, diesmal allerdings aus Ehrfurcht vor den noblen Herrschaften, die im feinen Zwirn durch die Hallen flanierten, auf der Terasse ein Tässchen Tee mit abgespreiztem Finger nahmen und mich relativ skeptisch beäugten, als ich zum erstklassigen Gourmet-Dinner in Jeans und Pullover erschien - das chicste, was ich noch aus meinem Rucksack zerren konnte. So unmittelbar und frontal bekommt man die soziale Schere selten mal um die Ohren gehauen, aber auch das war wieder eine Erfahrung, die ich im Nachhinein nicht missen möchte - nur ein bisschen weniger Ehrfurcht, das habe ich mir vorgenommen für zu Hause.


Und nachdem ich am nächsten Tag noch eine kleine Runde durch den Ort gedreht und anschließend das WLAN noch mal so richtig gemolken hatte, stand er da, 12:35 Ortszeit, strahlte mich an und sagte "Hallo, mein Name ist Hassan, ich bin ihr Guide." ... Ja... emm... ich höre das jetzt in seinem Akzent und schmelze dahin, der geneigte Leser kann diesem Satz wahrscheinlich eher wenig abgewinnen. Aber glauben sie mir, es war wunderschön. Hassan hatte am Morgen die vier Mitglieder meiner neuen Wandergruppe in Marrakesch abgeholt, in Aïd Ben Haddou wurden Abdullah, der Trekking-Koch und ich noch eingesackt und mit dem Minibus ging es anschließend weiter nach Aïd Youl, wo wir am Abend in einem Gästehaus ankamen, das mich fast mehr überforderte, als mein kleines Einmann-Zelt in der Wüste. Denn in meinem Zimmer hatte ich vier Betten, eine Sitz-Toilette mit funktionierender Spülung, eine Dusche mit warmem Wasser, 3 Steckdosen, drei Lampen und sogar Handtücher zur Verfügung. Schnell war also klar, dass der Grad der Entbehrung in der zweiten Wanderwoche weit geringer sein sollte, aber so richtig ordentlich entbehrt hatte ich ja schon die Woche zuvor, deswegen schlief ich dann in Gedanken bei Hassan sehr gut ein, eingewickelt in drei Decken, den Kopf gebettet auf einem großen, weichen Kissen.


Ein kleines bisschen mehr entbehren durften wir in den darauf folgenden Tagen allerdings auch noch, denn bereits das zweite Gästehaus auf unserem Weg durch das Tal der Rosen hielt weder warmes Wasser noch Decken noch Kissen noch eine funktionierende Toilettenspülung bereit, aber im Gegensatz zu meinen Mitwanderern, denen die fehlende Dusche teilweise nicht ganz recht war, fühlte ich mich in meinem Schlafsack auf meiner Schaumstoffmatratze gleich wieder ein bisschen ursprünglicher, und die Eindrücke aus den Tälern der Berber ließen sich in so einem Rahmen auch viel schöner verarbeiten. Beeindruckende Felsformationen in sämtlichen Rot-Schattierungen, die man sich vorstellen kann, grüne Pappel- und Feigenwälder, große Schafherden im Hang und lustige Mulis am Wegesrand wechselten sich ab mit kurzen Abstechern in Dörfer, in denen die Uhren auch noch völlig anders als in Marrakesch ticken, in denen jeder Tourist von einer Horde kleiner Kinder verfolgt wird, die sich wie kleine Schnitzel über jedes Bonbon und jeden Stift freuen, die sie geschenkt bekommen und in denen jede Familie noch ihren eigenen Feuerholz-Haufen am Wegesrand hat.


Habe ich also nun innerhalb von zwei Wochen drei sehr verschiedene Lebenswelten innerhalb eines mir sehr fremden Kulturkreises kennengelernt und sämtliche Aspekte dabei sehr lieb gewonnen – so wirklich steht mir der Sinn noch nicht danach, mich wieder auf den Heimweg zu begeben. Aber zum einen haben meine Mitwanderer inzwischen ermittelt, dass Hassan bereits Frau und Kind hat, und zum anderen hoffe ich, dass es mir diesmal gelingt, wenigstens einen kleinen Teil meiner hier gewonnenen Erkenntnisse auch zurück im alltäglichen Kampf anwenden zu können, damit sich eben jener wieder ein bisschen weniger nach Kampf anfühlt und stattdessen nach einem Weg, den es schön ist, zu beschreiten.

*plöpp *

01.11.2015

Das kleine Reisetagebuch: Im Schatten der Tamariske.

As-salāmu ʿalaikum! Zwar ist es hier noch eine Stunde früher, als in Deutschland, aber nach 5 Tagen in der Wüste und 6 Tagen ohne Dusche oder Waschbecken fühlt sich auch 21:57 schon sehr spät an, daher an dieser Stelle ein kurz gefasster Gruß von meinem Zwischenaufenthalt zwischen Sahara und dem Hohen Atlas! (Wer den genauen Reiseverlauf nochmal nachvollziehen möchte: Hier entlang.)

Nachdem ich drei Tage benötigt hatte, um Marrakesch schätzen zu lernen, ging es am Montag Morgen nach einem Glas frisch gepresstem O-Saft zum Eingangstor meiner lieb gewonnen Hood und dort direkt in den Kleinbus, in dem ich meinen deutschsprachigen Trekking-Führer und meine 5 Mitwanderer kennen lernte - allesamt unglaublich angenehme Menschen, wie sich herausstellen sollte.


Am Montag noch im Dunklen in der Wüste angekommen und im Stirnlampen-Crashkurs schnell gelernt, wie unsere Zelte aufzubauen sind, begann die wahre Wüstenerfahrung am Dienstag nach einem ausgiebigen Frühstück unter der Sonne Marokkos, und die Wüstenerfahrung war wahrlich a humbling experience. Humble/ humility/ humbling ist auch so eine Vokabelgruppe, für die es im Deutschen keine schöne, angemessene Übersetzung gibt. Demütig/ Demut/ demütigend wäre die wörtliche Übersetzung, aber eigentlich meint die englische Vokabel etwas anderes. Demut, gepaart mit Bescheidenheit angesichts des Erlebten... also nicht im negativen Sinne, sondern in dem Sinne, dass das eigene Weltbild wieder ein bisschen zurecht gerückt wird, wenn man für eine gewisse Zeit vor Augen geführt bekommt, dass man zu Hause eigentlich lebt, wie die Made im Speck, und dass es ein wahrer Luxus ist, sich tagtäglich über all die banalen Kleinigkeiten aufzuregen, über die man sich so aufregt.


Und genau diese Begradigung des Weltbildes findet statt, wenn man 5 Tage lang durch die Wüste marschiert, keine einzige Wolke am Himmel, die Sonne erbarmungslos am lachen, der Schweiß gnadenlos am Laufen, die vereinzelten Tamarisken aller 4-5 km die einzige Rettung. Und wenn man die kühlen Nächte auf einer Schaumstoffmatte mit Blick auf die Milchstraße verbringt. Und wenn man irgendwann sogar warmes, stilles Wasser gerne trinkt, weil man das Gefühl hat, zu Staub zu zerfallen. Und wenn man sich am letzten Tag der Tour schwach, schlapp, elend und am Ende fühlt wie ein Klischee-Wüstenwanderer auf Gewaltmarsch, weil man die Nacht davor komplett durchgekotzt hat und beim besten Willen keinen Bissen drin behalten kann. Und wenn man einen 67jährigen Herren kennen lernt, der vor 27 Monaten gesagt bekam, dass er mit 85%iger Wahrscheinlichkeit noch 24 Monate zu leben hat, und der sich deswegen sehr freut, dass sein Traum, einmal durch die Wüste zu wandern, doch noch wahr wird. Und wenn man 5 Tage lang nur in ein Loch in der Erde ka*ken kann. Und [...]


Die Liste ließe sich noch um einiges weiter führen, aber ich denke, sie bekommen eine ungefähre Idee. Und wenn man dann nach erfolgreich bewältigter Wüstendurchquerung auf der Rückfahrt seine eisgekühlte Fanta bekommt, an die man während seines besagten post-emetischen Gewaltmarschs die ganze Zeit gedacht hat, um weiterhin einen Fuß vor den anderen zu setzen, war es das alles gleich nochmal wert.


Der heutige Tag war dann schon wieder fast einen eigenen Blogpost wert, aber da ich mit meiner Zeit gut wirtschaften muss, werde ich gleich nochmal auf der Dachterasse nachsehen, ob meine Wäsche noch hängt oder schon weg geflogen ist und mich danach in meine edlen Daunen verziehen und den Schlaf des Gerechten schlafen. Sehr verdient, wie ich finde.

Guts Nächtle, und
*plöpp*

26.10.2015

Das kleine Reisetagebuch: Come to Marrakech... my friend!


So. Hier nun mein erster Schritt in Richtung Einhaltung der guten Blog-Vorsätze: Ein herzlicher Gruß aus Afrika! Das klingt irgendwie kosmopolitisch, und weit weg. Wenn man allerdings bedenkt, dass selbst die Kanaren weiter weg sind, als Marrakesch, klingt es schon ein bisschen weniger exotisch. Aufregend ist es nichtsdestotrotz, denn abgesehen davon, dass Kultur und Mentalität in Marokko mit europäischen Maßstäben nicht im Geringsten zu vergleichen sind, ist besonders Marrakesch eine echte Herausforderung für Menschen, die Ruhe, Ordnung und System lieben und für Menschen, für deren Orientierungssinn es bei der Auslosung der Talente leider nicht mehr gereicht hat. Also mich. Wie ich diese Stadt also jemals auf meiner Liste der Wunsch-Reiseziele haben konnte, fragen sie? Ich mich auch. Aber nachdem ich die ersten zwei Tage noch dachte, meinen Besuch hier unter der Rubrik "Muss man mal erlebt haben, aber einmal reicht dann auch" verbuchen zu müssen, bin ich heute auf einmal traurig, nicht noch länger bleiben zu können.


[Souk in Marrakesch | Pfefferminztee | Klassischer Blick über die Dächer]

Man (wenn ich "man" schreibe, meine ich mich) findet hier einfach nichts auf Anhieb, die Medina Marrakeschs ist ein elendes Labyrinth, in dem keine, aber auch wirklich keine einzige Straße mit einem Namen versehen ist (also, in den Karten schon, aber in den Straßen leider nicht), selbstverständlich liegt nirgendwo mobiles Internet an, und den Reisetipp in meinem National Geographic-Reiseführer, dass man in der Medina am besten mit einem Kompass beraten ist, hatte ich leider zu spät gelesen. Glücklicherweise gibt es an jeder Ecke freundliche Menschen, die einem gern den Weg zeigen, und auch gern noch vieles mehr zeigen, und alles gleich noch mit erklären - grundsätzlich aber nur gegen einen kleinen Obulus. Den sie erst am Ende ihrer Führung verlangen. Um vorher die Stimmung nicht zu verderben.


Überhaupt ist man bei jedem, der einen anspricht, erstmal "my friend", alles ist "no problem" und alle sind in einer Minute wieder da, und alles, was der geneigte fröhliche Fremdenführer einem zeigen möchte, ist sowieso das Schönste, das Beste, das Älteste, das Authentischste, und "very very old", und "very very special", nur damit man zum Schluss doch wieder zum Verkaufsgespräch in irgendeiner beliebigen Teppichbude sitzt und einen Pfefferminztee schlürft, während man die neuesten Knüpferfolge der Damen des Hauses bewundert. Alles aus reiner Gastfreundschaft natürlich. In solchen Momenten lernt man dann die deutsche Reserviertheit zu schätzen - bei uns geht einem wenigstens keiner auf die Ketten, und die jenigen, die freundlich sind, meinen es auch wirklich ernst.


[Bab Agnaou mit klassischen Transportmitteln am Platz | La Menara | Djemaa el Fna]

Anfänglich schien sogar mein abendliches Entertainment-Programm meine Einschätzung von Marrakesch zu teilen, denn zum Abschalten habe ich diesmal ein paar alte Staffeln von "The Amazing Race" dabei - unter anderem Staffel 25, in der die Teams zwei Tage in Marrakesch verbrachten, wo sich Misti und Jim mit dem Fazit "We're so excited to go to Sicily because the last thing we wanted was to see Marrakech another day." verabschiedeten, aber: Sie hätten mal noch Tag 3 abwarten sollen. Denn wenn man sich einmal daran gewöhnt hat, dass hier eine Hand die andere wäscht, wenn man sich selbst vertraut, wenn man sich keine Ziele mehr setzt und sich stattdessen darüber freut, wenn man überhaupt irgendwas findet, wenn man so halbwegs eine Idee bekommen hat, wo man ist, und wenn man die ganzen "Ey, my friend! Ey! Ey! Sorry! My friend, ey!"s einfach ausblendet, dann wird aus der anfänglichen maßlosen Überforderung ein wunderbares Erfolgserlebnis und plötzlich möchte man gar nicht mehr weg aus den Souks und vom Djemaa el Fna, erst recht nicht, wenn es dunkel ist.

Werde ich also morgen mit gemischten Gefühlen weiter reisen, und verbleibe mit folgenden Reisetipps für Marrakesch:

1. Eine gute Unterkunft in Marrakesch ist Hafen und Anker zugleich, denn wenn man von all dem Trubel, dem permanenten Hupen sämtlicher Verkehrsteilnehmer und der unerbittlichen Mittagssonne in eine idyllische Herberge fliehen kann, ist man innerhalb von 30 Minuten revitalisiert und wieder bereit für den Kampf - ich persönlich fühle mich sehr wohl hier im Riad Sidi Mimoune (habe allerdings auch keinen Vergleich ;) )

2. Eine Stadt(-teil)mauer ist eine genau so gute Orientierungshilfe wie ein Fluss.

3. Wenn sie jemanden nach dem Weg fragen wollen, fragen sie Mitarbeiter des öffentlichen Nahverkehrs, Frauen ohne Schleier oder bis unter die Zähne bewaffnete Sicherheitskräfte - die helfen kostenfrei.

4. Der Zoom ist dein Freund, der Ultrazoom ist dein Ultrafreund: Sobald man zu nah an einem Motiv ist und es fotografiert, kommt garantiert irgendjemand angerannt, der dafür einen kleinen Unkostenbeitrag haben möchte.

5. Im Zweifelsfall hilft es nur, so zu tun, als würde man weder Englisch noch Französisch verstehen und am besten wirres Zeug auf Sächsisch zu brabbeln - für alle anderen Ausreden haben Händler schon die passende Antwort. ("Du bist Student? Kein Problem! Diesen Teppich kannst du zu Hause für's Doppelte verkaufen!", "Du reist nur mit Handgepäck? Kein Problem! Kennst du FedEx?")


So. Und wenn ich dann noch gegoogled habe, ob zwei junge Männer im Islam Händchen halten dürfen, weil das im Islam irgendwas Unverfängliches bedeutet, oder ob hier der Fortschritt um sich greift, wird es auch schon wieder Zeit zu packen und ins Bett zu gehen, denn morgen startet der Sahara-Express in aller Herr-Allahs-Frühe und dann wird hier endlich mal richtig gewandert!

In diesem Sinne: Tisbah alal-khair, bonne nuit oder einfach nur

*plöpp*