03.04.2017

Patient glücklich entlassen // Gestatten: Narziss.
[Part III]



André's Therapiemitschriften, "kurz" zusammengefasst: Teil 3.

Teil 1 lesen sie hier nach.
Teil 2 dann hier.

Balbina singt: "Der Haken"

januar das ganze jahr
so kühl nichts blüht,
knospen stürzen ab, landen in meiner hand,
ich frier in meinem mantel.
ich halt sie warm-
und warte ab.
vielleicht kann ich sie retten
und sie werfen wurzeln
aus in meinen händen.
bitte geht nicht ein!
ich mach euch in einen eierbecher mit wasser rein,
und warte ab bis mai.
um mich rum ist so viel zu machen-
ich muss alles schaffen.
ich geb mir aufgaben,
damit ich was auf habe.
ich mach gern haken
hinter die sachen.
ich mache haken.
weihnachtszeit, mein zimmer
überfüllt mit dingen.
stapel, die sich stapeln in regalen.
termine müssen warten,
ich sortier nähgarn gerad nach farben.
ich wähle von der dringlichkeit benebelt
und lass das gröbste erstmal so stehen,
für sich stehen.
um mich rum ist so viel zu machen-
ich muss alles schaffen.
ich geb mir aufgaben,
damit ich was auf habe.
ich mach gern haken
hinter die sachen.
ich mache haken.
meine prioritäten ergeben ein chaos,
weil der rest der Welt,
das echte leben auf pause stellt
und das auch noch verdrängt.
dann häng ich lieber hintendran,
ich komm nämlich auch dort an,
wo die ewigkeit beginnt,
mit sinnvollem.

Sehr wesentliche Erkenntis meines ersten Wochenendes zu Hause. Immer wieder haben mir verschiedene Therapeuten gesagt "Herr Weise, sie machen sehr viel!", und immer wieder habe ich erwidert, dass das gar nicht sein kann. Denn so lange ich mir den Luxus leisten kann, einen ganzen Tag nur in der Couch zu kleben und Serien zu schauen, weil ich mich zu nichts anderem aufraffen kann, kann es doch nicht sein, dass ich zu viel mache. Da geht doch noch mehr. Als mich dann aber an meinem ersten Wochenende zu Hause die Wohnung und alles, was sich darin befand, anschaute, ich mich schon wieder von den banalsten Verrichtungen völlig überfordert fühlte, letztendlich fast das komplette Wochenende mit dem Kopf auf der Tischplatte liegend verbrachte und am Sonntag keinen der vier Stichpunkte auf meiner Wunschliste für zu Hause abgearbeitet hatte, wurde mir plötzlich ziemlich deutlich, dass mein Leben und alles darin Befindliche tatsächlich völlig überladen ist. Was ich aber zum Anlass nahm, mein Leben zu entrümpeln - beginnend bei der Wohnung. In der es jetzt immer leerer wird. Und auch retten möchte ich inzwischen nicht mehr ausnahmslos jeden.



Balbina singt: "Der Trübsaal"

ich weine,
verzweifelt beim schneiden,
von zwiebeln zum frühstück,
denn der toast am morgen-
ist schon so schwarz wie der tag.
mein los ist so grundlos groß,
einfach so, ich will keinen Trost.
denn wenn es heiter ist
ist mir langweilig,
ich will leiden!
der seele gehts angenehm elend, ich wäre
traurig, wenn das vergeht
es gibt nur einen raum,
in dem ich auftau:
im trübsaal.

In meiner fünften Woche durfte ich dann endlich meine Familienskulptur bauen. Familienskulptur bedeutet, dass ich zunächst meiner Therapie-Kleingruppe (eine Hälfte der gesamten Stationsbelegung) und meiner Therapeutin meinen Familienstammbaum (inklusive guter Freunde und der Symptomatik in zeitlicher Einordnung) vorstelle, um dann die Teilnehmer dieser Runde als Skulptur aufzustellen, in der jeder eine wichtige Person oder Instanz in meinem Leben stellvertritt. Und eine relativ neue Erkenntnis für mich war, dass ich meine Symptomatik (Depression und Alkoholmissbrauch, dargestellt durch eine Person) als gute Freundin aufgestellt habe, über die möglichst auch niemand schlecht reden sollte. Eine wichtige Erkenntnis, zu der (zumindest im Haus 18 auf Station 2) jeder Patient kommen muss, um vorwärts zu kommen, ist die, dass unsere psychischen Störungen auch immer einen Zweck erfüllen und dass wir sie brauchen, mit ihnen etwas kompensieren und sie auch nur ungern weggeben möchten, wenn es nichts gibt, was diese Lücke dann füllen kann. Und ob da schon genug da ist, darüber war ich mir am Tag meiner Familienskulptur nicht mehr ganz sicher.

Familienskulptur bzw. Familienthema war aber zu dieser Zeit bzw. in der Woche davor sowieso ein schwieriges Thema, deswegen an dieser Stelle noch ein wenig Unterstützung für Balbina durch die fabelhafte Elif (Homepage | Wiki | YouTube | Vevo).

Elif singt: "Doppelleben" (Und liefert dazu auch das perfekt passende Video)



ihr habt mir mein leben doch geschenkt,
doch ein stück davon behaltet ihr.
merkt ihr nicht, dass uns're zeit verrinnt,
wir könnten so viel tiefer geh'n.
wollt ihr denn nicht hören,
was in meinem herzen klingt?
fangt mich auf - einfach nur auf.
und nehmt mich so wie ich bin.
[...]
ja ich bin und bleibe euer kind,
doch bei euch kann ich nicht mehr weinen.
ihr habts ja selber besser nicht gelernt,
sollte es bei uns nicht anders sein?
wollt ihr nicht verstehen,
sas ich in meinen liedern sing?
fangt mich auf - einfach nur auf.
und nehmt mich so wie ich bin.
[…]

Viele wollen es nicht wahrhaben, aber oftmals ist die Wurzel allen Übels tatsächlich eine Kindheit, in der die familiären Verhältnisse nicht so waren, wie sie für eine gesunde, kindliche Entwicklung hätten sein sollen. Und allein beim Schreiben dieses Satzes habe ich schon wieder ein schlechtes Gewissen, denn ich würde nie im Leben behaupten, eine schlechte Kindheit gehabt zu haben und erst Recht niemals behaupten, dass sich meine Eltern nicht die allergrößte Mühe gegeben haben, mir eine schöne Kindheit samt aller Möglichkeiten zu bieten. Aber auch meine Eltern hatten eine eigene Kindheit, sind irgendwie groß geworden und haben sich Verhaltensweisen angeeignet, die sie mir dann tagtäglich vorgelebt haben. Und wenn die eigene Mutter dazu erzogen wurde, niemals mit irgendetwas zufrieden sein zu dürfen, überall krampfhaft Probleme suchen zu müssen und negative Emotionen wie Trauer oder Wut in der Familie schon seit Generationen keinen Platz hatten, dann ist es ein fast unmachbarer Anspruch, dem eigenen Kind das Gegenteil beizubringen, wenn man das, was man seinem Kind beibringen möchte, nicht selbst leben kann. Aber selbst die Erziehung meiner Großelterngeneration war ja nie böse gemeint. Sondern gut. Auch so ein allwöchentlich wiederkehrendes Thema: Das Gegenteil von gut ist gut gemeint. Und selbst, wenn etwas nur gut gemeint war, dann aber doch irgendwie nach hinten losging, muss man sich erlauben können, darauf wütend zu sein, unabhängig von irgendwelchen Absichten. Denn ich bin daran krachen gegangen, und mein eigenes Leid dann noch damit zu relativieren, dass ich die Ursachen entschuldige, das macht es nur noch schlimmer.

Bis zu dieser Stelle war der Erkenntnisprozess, besonders der bezüglich meiner kindlichen Entwicklung, zwar auch schon auslaugend und mit vielen Tränen verbunden, aber richtig weh tat es dann, als ich mir Hoffnung auf Verständnis gemacht hatte und nichts dergleichen bekam. Ich hatte mir ein Familiengespräch mit meiner Therapeutin und meiner Mutter gewünscht, alle waren einverstanden, und ich hatte die Hoffnung, dass in diesem Rahmen wieder eine Annäherung stattfinden kann. Nicht räumlich, zeitlich oder in der Frequenz, denn ich sehe meine Mutter fast jede Woche, aber emotional. Und dieses Gespräch ging so dermaßen gegen den Baum, dass ich danach kurzzeitig nicht mehr wusste, wo oben und wo unten ist. Nachdem ich 14 Tage vorher schon ein Gespräch mit meiner Mutter geführt hatte, in dem ich einige Themen, die ich mit ins Familiengespräch bringen wollte, schonmal ansprechen wollte und bei dem ich das Gefühl hatte, dass der ein oder andere Punkt auch angekommen war, ging unser therapeutisches Familiengespräch in eine Richtung, die ich irgendwie nie als Option erwogen hatte. Jeder meiner Punkte prallte ab; alles, was ich über unsere Familienkultur, unser Verhältnis oder wasauchimmer sagte, wurde direkt zurückgewiesen oder negiert, ich machte Schritte auf die Mitte zu und mein Gegenüber entfernte sich immer weiter von der Mitte… es war surreal. Aber auch passend zu einem weiteren bedeutenden Kindheits- und Jugend-Thema, das ich aber auch schon vor der Therapie auf dem Schirm hatte: Das In-Watte-Packen von klein André, das aber einher ging damit, dass klein André auch nie irgendetwas zugetraut wurde. Für mich wurde immer alles gemacht, ich hatte nie irgendwelche Aufgaben oder musste mich um irgendetwas selbst kümmern. Und ich weiß nicht, wie die prozentuale Verteilung der beiden Aspekte war, dass meine Familie mich verwöhnen wollte und dass meine Familie der festen Überzeugung war, es sowieso besser zu können. Aber genau das kam dann auch wieder im Familiengespräch durch: Nichtmal die Entwicklung einer eigenen Meinung wird mir zugetraut. Ob man es nicht auch übertreiben kann damit, alles zu analysieren, und ob man in der Therapie auch nicht viel eingeredet bekommen kann, fragte mich meine Mutter bei unserem ersten Treffen. Dass ich für mich selbst entscheiden kann, welche Thesen und Angebote für mich zutreffen, und welche nicht – undenkbar. Meine mütterliche Familienseite würde auch nie mit irgendeinem Wehwehchen zu mir, dem seit 5einhalb Jahren ausgelernten Krankenpfleger, kommen.

Und so fragte meine arme Therapeutin am Ende dieser Stunde, mit welchen Wünschen wir aus diesem Gespräch hinaus gehen. Mutti wollte gern "wenigstens auf die Basis zurück kommen, die wir vorher hatten", wo ich mich auch schon wieder gefragt habe, was sie an dem Ansatz, dass ich genau von dieser Basis weg wollte, nicht verstanden hat, und ich wollte in dem Moment einfach nur Abstand. Und dieses Thema zog sich dann auch noch über Tage und bis in die nächste TPG (Tiefenpsychologische Kleingruppe), und erst, als meine Therapeutin dann fragte "Herr Weise, hatten sie eigentlich jemals Abstand zu ihrer Mutter?" fiel mir auf, dass dem noch nie so war. Als ich bei ihr gewohnt habe, sind abends die Türen geflogen, es wurde lautstark geweint, und am nächsten Morgen haben wir wieder so getan, als wäre nichts gewesen. Und auch, nachdem ich ausgezogen war, haben wir uns nach jeder Streitigkeit schnell wieder vertragen, weil muss man ja als Familie. Muss man aber nicht. Damit habe ich inzwischen meinen Frieden. Von meiner Mutter kam sechs Tage später eine SMS, ob ich möchte, dass sie mich am nächsten Tag wieder besuchen kommt.

To be continued.

Keine Kommentare: