Das Familienthema könnte ich jetzt schon wieder weiter führen. Und überhaupt könnte ich schon einiges von dem, was ich in den letzten drei Beiträgen geschrieben habe, überarbeiten, weil immernoch jeden Tag neue Erkenntnisse hinzu kommen. Ich plane zum Beispiel, das Wort "müssen" komplett aus meinem Wortschatz zu verbannen. Irgendwann möchte ich aber auch lernen, die Dinge, die ich gesagt oder geschrieben habe, einfach stehen zu lassen, statt ewig an ihnen zu feilen. Die Essenz des Ganzen ist sowieso schon wieder in viel zu viel Text versteckt. Und mit ein bisschen Glück und ein bisschen Spucke gelingt mir zum Abschluss ein Resümee, das das Essentielle nochmal aus den Begleiterzählungen heraus löst. Da ist allerdings schon wieder der zwölfte Schritt vor‘m fünften gedacht – erstmal weiter im Text:
Balbina singt uns einen und André erzählt dazu von seiner Therapie: Teil 4.
Zum Nachlesen: Teil 1 | Teil 2 | Teil 3.
Balbina singt: "Der Schlafvertrag"
gähnen ist das aufregendste, was ich erlebe.
ich zieh den vorhang zu vorm leben,
denn da wartet nur gähnende leere auf mich.
an meinen wimpern sind so schwere gewichte,
ich krieg die augen nicht auf auch wenn ich müsste.
ich bin umgeben von federn wie ein spatz,
fall ich vom dach ist jeder aufprall ganz sanft.
ich bin so müde vom liegen
ich bin so müde vom liegen
ich bin so müde vom liegen
ich bin so müde.
während andere leben, liege ich schnarchend daneben und drehe mich höchstens mal um.
ich bin seit ewigkeiten träge, deswegen ist meine lage gerade horizontal.
sogar meine matratze ist immer am ratzen
nichts kann mich wachhhalten.
jeder atemzug ist voll von schlafwagen, die mich tag für tag in den schlaf fahren.
der schlaf wohnt
in meinen laken.
wir sind so müde
vom schlafen.
er und ich wir haben einen vertrag:
wir vertragen den tag!
...was mich direkt an Balbinas "Langsam langsamer" von ihrem Vorgänger-Album "Über das Grübeln" erinnert. Da gibt es eine Zeile, die ich zu Hause ständig gesungen habe, bei der ich aber immer dachte, dass die auf mich eigentlich gar nicht zutrifft und dass ich die wahrscheinlich nur singe, weil ich die Tonfolge so schön finde: "Ich bin so müde vom Sprint durch die eigene Vita." Tonfolge am Arsch. Das war nämlich so mein Ding, vor allem zu Hause. Ich erinnere mich noch, dass ich 2009 wirklich unglaublich oft unglaublich viel geschlafen habe. Das war dann später nicht mehr ganz so extrem, denn wer ständig unter Strom steht, kann nicht einfach mal 12 Stunden schlafen, und wer permanent das Gefühl hat, sein Leben in der vorgegebenen Zeit nichtmal annähernd schaffen zu können, der steht auch auf, wenn er wach ist und legt sich tagsüber nicht einfach nochmal hin. Aber nachdem die chronische Unlust auf irgendetwas, was mit Leben zu tun hatte, merkte, dass sie sich nicht mehr in Schlaf flüchten kann, wurde sie schnell zu Lethargie und Apathie. Taubheit statt Müdigkeit; Aushalten in Prokrastination. Meine Vorhänge waren fast immer zugezogen, und die Serien, die stundenlang liefen, haben sämtliche Sinne fast genau so gut betäubt, wie Schlaf.
Balbina singt: "Das Kaputtgehen"
um nach oben zu treiben.
deshalb bleibe
ich einfach bei mir.
ich versinke viel zu tief in jegliches Gefühl
ich fühle unkontrolliert sonst viel zu viel
deshalb mach ich dinge kaputt,
mach ich dinge kaputt.
man kann nichts verlieren,
was nicht da ist.
deshalb mach ich dinge kaputt,
mach ich dinge kaputt,
um mich rum liegen abfallberge und schutt.
Und so habe ich mich über viele Jahre daran gewöhnt, einfach nur abzustumpfen und jegliche Gefühlsregung abzutöten, selbst wenn das bedeutete, auch eventuell positive Gefühlsregungen möglichst schnell zu sabotieren, damit sich idealerweise gar nichts mehr regt. Und das war dann auch gemütlich so. In der Therapie durfte ich das allerdings nicht mehr. Und als meine Tränen dann plötzlich nicht mehr nur für die gequälten Tiere in den Reportagen im Frühstücksfernsehen sondern auch wieder für mich kamen, war ich anfänglich völlig überfordert mit meiner Angst davor, unkontrolliert in meinen Gefühlen zu zergehen, und hatte tatsächlich auch einen Tag, an dem ich nicht mehr aufhören konnte zu heulen, bis mich eine Mitpatientin durch geschickte Gesprächsführung wieder aus dem Tal gezogen hat. Ich weiß nicht, ob ich ohne fremde Hilfe jemals wieder aufgehört hätte. Und auch jetzt scheint das noch ein Problem zu sein, denn nachdem ich die negativen Emotionen in mir entdeckt und anerkannt habe, habe ich das Thema dann schnell wieder ad acta gelegt, versuche optimistisch in die Zukunft zu blicken und weine dafür wieder verstärkt, wenn es meinen Freunden im Haus 18 schlecht geht. Ich hätte mir viel zu wenig Zeit eingeräumt, um über alles, was mich traurig und wütend macht, traurig und wütend zu sein, deswegen geht das mit der Stellvertreter-Krücke gerade noch besser. Aber der Weg vom Verstehen und Erkennen eines bestimmten Verhaltensmusters überhaupt zum Erkennen lange und später kurz danach zum Erkennen währenddessen zum Erkennen schon davor ist ein langer und steiniger Weg, der sich hintenraus immer weiter ebnet, und wenn man am Anfang noch Krücken braucht, ist das vollkommen legitim. Zu kryptisch? Wer weiß, wovon ich rede, weiß, wovon ich rede...
Balbina singt: "Das Platzen"
dann bin ich in gefahr zu platzen,
wir müssen aufpassen!
wenn ich nichts sag,
dann bin ich in gefahr zu platzen!
wer sammelt die reste dann auf?!
wer sammelt die reste dann auf?!
das treibt mich in die weißglut,
weil die stirn glüht wie ein glühwürmchen mit fieber!
hör auf mich! aufzuregen!
ich bin sauer,
wie regen in industriegebieten.
Und wenn wir einmal bei negativen Emotionen sind: Neben der Traurigkeit als erste negative Emotion, die ich in mir neu kennenlernen durfte, die sich aber nach wie vor ein bisschen wie eine Schwäche denn wie eine Stärke anfühlt, gab es noch eine zweite Emotion, die schon von Beginn an und dann ab Woche 4 nochmal so richtig Zeit und Platz in Anspruch nahm, sich aber auch um so mächtiger anfühlte: Die Aggression. Ebenfalls als Kind gelernt, dass Wut und Aggression keinen Platz im Leben haben und man nicht aggressiv zu sein und die Türen zu schmeißen hat, weil sonst wieder das Schlechte-Gewissen-Programm gestartet wird, hatte ich mir auch diese Emotion schon lange abgewöhnt, und wenn ich sie dann mal empfunden habe, habe ich mir die Schuld daran gegeben und mich gefragt, wo mein Fehler liegt, dass mich dies und das gerade sauer macht. Meine Harmoniesucht war in diesem Zusammenhang nicht wirklich hilfreich, und so habe ich das In-Mich-Heineinfressen und Auf-Mich-Beziehen von Wut über die Jahre perfektioniert, auch auf die Gefahr hin, ab und an völlig unproduktiv zu platzen, wofür ich dann aber wenigstens wieder sämtliche Schuld auf mich laden konnte. Dass aber die "Gefahr, zu platzen" nicht nur die Gefahr, zu explodieren sondern auch die Gefahr, zu implodieren beinhaltet, das wurde mir auch erst im Haus 18 bewusst. Meine dritte Diagnose, die nicht ganz so sexy klingt, wie die ersten beiden, ist die "Somatoforme autonome Funktionsstörung: Unteres Verdauungssystem", worunter sich jeder vorstellen darf, was er möchte. Diese Störung hatte ich über ein Jahr lang permanent und ohne Pause, keiner konnte sich erklären, woher es kommt und keine durchgeführte Untersuchung ergab irgendeinen Befund. Als dann aber im Haus 18 auf einen Schlag alles wieder gut war im unteren Verdauungssystem, bis dann an dem einen Tag, an dem ich beschlossen hatte, den Konflikt, den ich schon wieder seit einer Woche in mir gezüchtet hatte, endlich auf den Tisch zu bringen, plötzlich alles wieder ganz fürchterlich war, nur um abends, nachdem der Konflikt deutlich ausgesprochen war, direkt wieder gut zu sein, schien der psychosomatische Zusammenhang genau so offensichtlich zu sein, wie die Notwendigkeit, meine Aggressionen zu akzeptieren und zu kommunizieren, statt sie gegen mich zu richten, sie klein zu reden und sie weich zu spülen. Und als mich dann in der vierten Woche eine Mitpatientin als "ganz schön aggressiv" bezeichnete, nachdem ich einen weiteren Konflikt mit deutlichen Worten vor versammelter Menschschaft ausgetragen hatte, klang das für mich fast schon ein bisschen wie ein Kompliment.
Und auch, wenn ich jetzt nicht wie ein wütender, kleiner Wurzelgnom wirken möchte, der von nun an nur noch auf alles motzt, was ihm nicht passt, ist es auch eine meiner Therapieaufgaben, die Möglichkeit, dass dieser Eindruck entstehen könnte, auszuhalten. Denn ich ruhe in meiner Mitte, meine Aggressionen haben mich auf dem Weg dahin begleitet, authentische Diplomatie als Ziel ist mir gerade noch viel zu fern, und was der geneigte Leser jetzt darüber denkt, überlasse ich herzlich dem geneigten Leser.
Weswegen ich an dieser Stelle auch erstmal wieder gut einen Strich drunter machen kann, um mich in den kommenden Tagen voller Elan auf Teil 5 meiner Erzählungen über die Reise zum Glück zu stürzen. Wenn ich mich nicht gerade aufs Leben stürze.
*plöpp*
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